SYNOPSIS

Winter in Wien.
Kallmann ist Quartalsäufer ... Er zieht durch die Stadt, belehrt dabei lautstark seine Umgebung und versucht, den Passanten seine Gedichte zu verkaufen.

Sebastian und Alex verbringen ihre Abende damit, durch Lokale zu ziehen - ausländische Clubs, Likörstuben und Cafés der untersten Kategorie.
Sie nennen das 'Slumming'. Dabei schauen sie den Menschen beim Leben zu, kommentieren es, und manchmal greifen sie auch ein, treiben ein kleines, gehässiges Spiel mit ihnen.

Pia ist Volksschullehrerin. Die Kinder haben sie gerne. Am Wochenende arbeitet sie als Garderobiere in einer Diskothek. Pia konsumiert gerne, hat aber dabei oft das Gefühl, ausgenommen zu werden.

Pia begegnet Sebastian, Sebastian und Alex begegnen Kallmann, und Pia will Kallmann retten, doch sie begegnet ihm nie.

Wenn man wüsste, was aus dem wird, was man tut - würde man es dann noch tun?



Jedermanns Jaipong

"Sie haben das Ziel erreicht", sagt das Navigationssystem des BMW mit jener Sicherheit, die allein Maschinen und Narren zusteht, alldieweil der Wagen vor einem pottbetonhäßlichen Gebäude ausrollt, auf dem in großen Lettern "Znojmo" steht. Znojmo: Wenn man nicht mit slavischen Sprachen irgendwie vertraut ist, ihre Aussprachegewohnheiten kennt, dann wirkt das Wort wirr, befremdlich, fremd: Bloß ein Vokal, der aber gleich zweimal, und drumherum eher eigentümliche Konsonantenkombinationen - so zumindest sieht sich das, wenn man da als Deutschsprachiger draufguckt, fremd aber eher lustig. Solange man nicht aufwacht und auf das Znojmo guckt und eigentlich am Wiener Westbahnhof sein müßte, wo aber nirgendwo Znojmo dransteht, noch nicht mal irgendwas, das auch nur annähernd wie Znojmo wirkt - dann ist das gar nicht mehr lustig, dann ist man woanders, in seiner Unwissenheit völlig verloren, geworfen, fremd, man ist die Ausnahme und alle anderen sind die Regel, da kann man sich selbst so lange als Maß aller Dinge fühlen, wie man will. Das einzige, was man da noch tun kann, ist einfach seiner Umgebung zu glauben: Kallmann, der dichtende Quartalssäufer und Sandler, liest auf einem Plakat "Myslim to uprimne", sagt's, die fremden Worte ein erstes Mal schmeckend, vor sich hin, und meint's wirklich so, auch wenn er das nicht weiß, was aber nicht schlimm ist, der Narr ahnt, was paßt. šberhaupt muß man manchmal einfach ein bißchen Glück, ein Vertrauen in die Welt haben: In anderen Städten als dem tschechischen Znaim steht auf Wahlplakaten eher Sinnfreies wie "Weniger Rot, mehr Kontrolle" - da versteht man eher Bahnhof als das.

Und überhaupt, was für eine Kontrolle? Fahrscheinkontrolle? Was für eine Kontrolle über die Dinge hat man? Alle, jede, die Kontrolle, die man haben will, die einen nehmen sie sich, die anderen lassen sich nehmen, aber ob man sich nun nehmen läßt oder wen nimmt, das entscheidet man selbst, immer: Passivität ist eine Entscheidung, das Schicksal eine scheiß- Ausrede. Die Angst lebt von dem Unglauben der Menschen an die Welt: Sie tut, was sie will, weil andere sie machen lassen. Sebastian, der Jungprivatier, ein Fremder in den Wiener Tagen wie Nächten, der sich an der Anderen Ungewißheit aufgeilt, der wild seine Phantasien auf die Anderen wichst, projeziert - und wenn die sich wehren, in dümmsten Sozialdünkel plumpst; was macht das aus seinen Geschichten?, außer vulgären Dünkeleien -, der allein sich selbst als Hort allen Außergewöhnlichens empfindet und seine weiblichen Gegenüber allein danach sortiert, was sie nun echt alle gemeinsam haben, ohne die Einzigartigkeit einer jeden Möse zu wollen, - Sebastian ist die Fleischwerdung aller Angst, denn er sieht immer nur das Gleiche. Er ist ein Gleichmacher in der Welt der obsessiven Authentizitätssucht: Er bestätigt, was alle in sich sehen, nämlich nichts, wo doch so viel da wäre. Die einen wollen sich mit einem Branding den eigennen Leib (wieder?-/)aneignen, die anderen wollen ihr Selbst beim Fasching verlieren: Wenn Pia sagt, sie verkleidet sich als Frau, die sich als Mann verkleidet, der sich als Frau verkleidet, dann weiß man auch, daß das alles Quatsch ist mit sich verstellen, alles eitel -- vanitas vanitatis. Wie Sebastian, wenn er, während er den schlafenden Kallmann vor dem Bahnhof von Znaim photographiert, rezitiert: "Mein Name ist nicht Furcht, mein Name ist Angst, ich muß die Zeit die verbleibt verleben, zerfallen und bröckeln, flüssig werden, in voller Fahrt.": Da gibt er die Worte seines Opfer - Kallmanns Claudiusiana in Modern schlank - von sich, als seien sie seine. Sebastian ist am Ende zwar auch nur ein Arsch mit Kohle und nicht wirklich, sondern nur in der Meta-Ebene die Verkörperung aller Angst, aber auch ein Arsch hat oft recht, sei's, daß sein Kuppeln wirklich Leben verändert, zum Besseren hin, sei's, daß hinter seiner Arroganz mehr Wahrheit steckt als in anderer Leut's pietistischer Engagiertheit. Pia weiß ebenso, daß man nicht engagiert sein, sondern die Dinge tun muß, schließlich ist sie Grundschullehrerin und damit so mit dem Projezieren beschäftigt, daß sie getrost bei sich bleiben kann; Pia braucht dann auch keine Musik, um zu tanzen, und kein Gegenüber, mit wäre vielleicht schöner, vielleicht auch nicht, und jetzt ist eh keiner da und nix in der Luft und somit ist's eh wurscht, sie tanzt, und verliert sich in sich selbst, ihren eigenen Rhythmen - sie reicht sich selbst zum Glück, zumindest zum Leben. Pia tut ihre Dinge, ohne groß drüber zu reden oder nachzudenken, sie knipst ihren beslipten Schritt, weil Sebastian zu blöd zum Herumschummeln ist, und sie macht sich auf die Suche nach Kallmann, weil sich einer ja um den Menschen da kümmern muß.

Die Angst macht die Menschen sich selber fremd, einander fremd: Der Fremde ist nicht der Tschusch, die Fremde ist nicht Jakarta - die Fremde ist allein das, was man wegselektiert, wegschreibt aus den Geschichten, sie ist das, was nicht paßt und sich nicht passend machen lassen will, sie ist das, was man findet, wenn man bleibt statt aufzubrechen. Das Gegenteil der Fremde, nämlich das Eigene, findet man allein in den Augen aller Anderen: Man ist so sehr das, was man ist, wie das, was man nicht ist -- man ist eine Wirklichkeit und alle Möglichkeiten, für die Anderen wie sich selbst, und damit so unendlich viel mehr, als die romantische Binärlogik einem weismachen will. Trotsky hatte recht, als er sagte, daß man nur die Gegenwart ist - nur: Wer sind dann die Anderen?, Vergangenheiten wie Zukünfte? Wenn sich Sebastian und Pia zum ersten Mal küssen, spiegeln sie sich im Bildschirm eines Computerspiels: Ihr Begehren mag ein Spiel wie eine Spiegelung sein, ist aber echt.

Das Dasein, basisromantisch gesehen als System von einander ergänzenden deshalb allwissenden Widersprüchen, als Abfolge von Variationen über Situationen wie Bilder, Kreuzreime über Erinnerungslöcher, Raum und Zeit: Zweimal macht Kallmann den Sandlerrap über Sein und Bewußtsein und Dasein und den Tod (das Wort, das er nicht aussprechen will beim Ave Maria, zweimal), zweimal kommt der Sensen/Wetzen-Witz, Kallmanns Jedermanns-Vision reimt sich mit Pias Engelskostüm, zweimal taucht Bambi auf, im Suff sieht Kallmann die Zeit doppelt, im Kofferraum eines Autos wird Kallmann nach Znaim gefahren, im Gepäckraum eines Busses geht's zurück nach Wien, zweimal erstreckt sich eine klagelaute Stimme, einmal Pia im Roxy, die die Musik in ihrem Kopf rausläßt während sie in der Stille des Raums weitertanzt, einmal der Muezzin, dessen Aufruf zum Gebet Indonesien einführt - und über all dem Kallmanns Schrei, Er sähe mit dem Mund -, zwei Bahnhöfe spielen eine Rolle, Znojmo/Znaim und Wien West, und immer wieder Züge - Schienen reimen sich metaphorisch mit Navigationssystemen -, zu Beginn entwischt Kallmann grad noch einer Fahrscheinkontrolle in der U-Bahn, am Ende verläßt Sebastian in Jakarta seinen Zug und das Hippiemädchen, taipongt während zwei einheimische Haberer auf ihn draufphantasieren, und folgt schließlich einer Trasse durch die Slums in eine Ferne. Es lebt, wer sich von dieser Gleichungsmasse nicht beeindrucken, einschüchtern, verängstigen läßt, wer diese Analogien, Allusionen, Aliterationen des Alltags zu lesen weiß: Als Ausdruck dessen, daß man sich manchmal näher ist, als man glaubt, als Verdichtung einer gemeinsamen Menschlichkeit. Wenn gegen Ende die U-Bahn außertunnelig auf einer Brücke hält und Kallmann darin schaut nach unten und da ist Pia im Auto und die schaut rauf und beide sehen einander nicht wirklich, aber im filmwesenheitsschaffenden Schuß-Gegenschuß-Sinne doch, dann ist Michael Glawogger angekommen, bei sich. Von dieser gemeinsamen Menschlichkeit erzählt Glawogger immer wieder und nirgendwo so dicht wie in "Slumming": Getrieben vom Möglichkeits-, austariert vom Wirklichkeitssinn, ist die Welt sein Heim.

(Olaf Moeller, Januar 2006)